Poesie des Augenblicks

Am Meer!

Wir sind an diesem warmen Frühsommertag mit dem Fahrrad zwischen summenden Wildhecken geradelt, Schreibzeug, Buch und Picknick im Gepäck, hierher, an den wilden Strand - im Schatten der Steilküste, an deren lehmigen Wänden die Schwalben picken, wo große Steine im Sand und im Wasser wie die Rundbuckel urtümlicher Tiere in der Sonnenwärme dösen, wo ganze Schwanenkolonien auf dem tintenblauen bis jadegrünen Meer vorbeiziehen, durchwuselt von flinken, schwarzen Blesshühnern, die, Kopf unter, Federpopo hoch, zwischen ihnen im flachen Ufergewässer gründeln. In Schattenecken spannen sich die großgelappten Blätter des Huflattich auf, tote Baumstämme, vom Meer glatt und grau geschmirgelt, sind wie riesige Mikadostäbe übereinander gefallen, und am dunstblauen Horizont ziehen große Schiffe, deren heiseres Tuten manchmal überraschend nahe klingt, gen Norden.

Während ich, an einen Baumstamm gelehnt, über den ich mein Badehandtuch gebreitet habe, meinen Blick nicht lösen kann von der weiten Bläue dieser Sommermeerespracht und  mich nicht dazu bringe, mein Buch aufzuschlagen, fegt  die Freundin mit Strandhaferbüscheln eifrig eine Sandfläche  frei, größere Steine und Äste trägt sie fort, kleine Steine häuft sie an. Und dann beginnt sie zu schreiben, zieht mit dem Stock große Buchstaben in den glatten Sand, formt Worte aus Steinchen und Muscheln. Auf allen Vieren krabbelt sie über ihr Blatt, verwirft, verwischt, liest, runzelt die Stirn - nie sah ich sie so eifrig, so vertieft, so hingebungsvoll schreiben wie in diesen Stunden am Meer.

Längst war mir mein Buch ungelesen aus dem Schoß geglitten. Es gab für meine Augen so viel zu sehen, gab so viel zu hören, zu riechen, zu fühlen und auszukosten - was sollten mir da die Worte von Menschen geben, die in völlig anderen Welten unterwegs waren? Mehr als genug war mir dieser Sommertag am Meer mit der ins Schreiben vertieften Freundin. Mit ihrer dschungelgrünen Tarnkappe mit breitem Schirm zur Beschattung des Gesichts und einem zweiten Schirm hinten, um den Nacken vor Sonnenbrand zu schützen, ihrer riesigen Sonnenbrille, wie Berühmtheiten sie tragen, die inkognito reisen wollen, ihrem Röckchen in Sommerlaune und gestrickten Stulpen in Winterstimmung, dem lautlos die in den Sand geschriebenen Worten  kostenden Mund, sah sie so abenteuerlich aus auf ihrer Wortsafari, so liebenswert eigenartig und ganz sie selbst, dass ich lächeln musste. Und so vertieft war sie in ihr Tun - und lange!

Schon wurden die Schatten der Steilküstenwände länger, holten uns ein. Es   wurde kühler, das Meer färbte sich königsblau, und das Weiß der Schwäne auf dem Dunkelblau des Meeres war fast grell jetzt. Wir zogen die Handtücher um unsere Schultern und bissen, mit Blick auf das Meer nebeneinander hockend, gleichzeitig in unsere dicken Stullen. Plötzlich hörte die Freundin auf zu kauen, legte ihre Stulle beiseite, stand auf, griff nach ihrem Strandhaferbesen und fegte die Worte weg, die sie in den Sand geschrieben hatte. Sie nickte zufrieden, setzte sich wieder hin, griff nach ihrer Stulle und kaute weiter.

Den ganzen Nachmittag war kein Wort zwischen uns gefallen, und auch jetzt noch schwiegen wir. Als fürchteten wir beide, dass sich mit dem ersten laut gesprochenen Wort der Zauber, der uns umgab und an dem wir mitwirkten, auflösen würde und die Welt würde wieder ihr nüchternes Antlitz zeigen und wir zwei Beiden ebenfalls.

Karin Petersen 
 

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